Notiz des Übersetzers
Der englische Lyriker William Wordsworth (1770-1850) ist hierzulande wenig bekannt.
Biographische Daten erfährt man aus dem ihm gewidmeten Wikipedia-Artikel.
Gehaltvoller ist der entsprechende englische Artikel.
Was man aus beiden nicht erfährt, ist, dass sich die
Werke dieses Engländers mit denen eines deutschen Dichters nicht vergleichen lassen.
Wenn die auf Wordsworth angewandten Begriffe „Romantik“ und „Konservativismus“
im deutschen Sinne verstanden werden, wird man ihm nicht gerecht. Meine Einführung
in den politischen Wordsworth ist als pdf-Datei erreichbar von diesen Seiten unter
dem Titel Die "Tiroler Sonette" von William Wordsworth, eine literargeschichtliche
Abhandlung.
Meine erste Bekanntschaft mit dem Werk von William Wordsworth geht zurück auf eine
Wanderung 1991 durch seine Heimat, den Lake District im Norden Englands. Anstelle einer
Besichtigung seines ehemaligen Wohnhauses Dove Cottage in Grasmere und des daneben
stehenden Museums stöberte ich im Museumsshop, fand einen kleinen Auswahlband mit
seinen Gedichten und las:
          My heart leaps up when I behold
                  A rainbow in the sky:
          So was it when my life began;
          So is it now I am a man;
          So be it when I shall grow old,
                  Or let me die!
          The Child is father of the Man;
          And I could wish my days to be
          Bound each to each by natural piety.
Das konnte ich mit meinen humanistischen Kenntnissen des Englischen
ohne Lexikon sofort verstehen und sein Inhalt sprach mich Landschafts-
und Naturbegeisterten unmittelbar an. Auf der Heimreise erwiesen sich andere
Gedichte in diesem Bändchen als schwieriger zu lesen, so dass sich die Frage auftat,
gibt es denn davon keine Übersetzungen? Es schien damals offenbar nur ein noch
lieferbares einschlägiges Buch zu geben, den Reklamband mit Hermann Fischers
Übertragung des Präludium, erschienen 1974.
Die Situation ist heute kaum anders, insofern füllen meine Übertragungen,
die überwiegend in den neunziger Jahren entstanden sind, eine Lücke. Seit
einigen Jahren habe ich die Arbeit daran mehr oder weniger ruhen lassen, sie
ist aber für mich noch nicht abgeschlossen. Ich möchte weitere Texte
übersetzen und auch dafür sorgen, dass die Übersetzungen anderer Autoren
zumindest von meinen Seiten aus erreichbar sind. Diese meine Übertragungen
sind die Früchte einer Freizeitbeschäftigung. Anglisten werden meine Bemühungen
vielleicht taktvoll mit Schweigen bedenken, sie brauchen sie ja auch nicht.
Aber die Frage, wie denn Wordsworth im Deutschen klingen könnte, darf doch
gestellt werden.
Ich wollte die von mir als wenig zeitgebunden empfundene Sprache, die
Gedanken und Bilder Wordsworths in meiner Sprache nachempfinden und mir
so die Gedichte aneignen. Über die erlebten Freuden und Schmerzen des Übersetzens,
meine sich schrittweise herausbildenden Prinzipien der Übertragung und über mein
Unbehagen an Übertragungen anderer Autoren möchte ich hier nicht weiter sprechen,
das sei einem noch zu schreibenden Essay überlassen. Es sei hierzu nur das Folgende
angedeutet:
Mit mancherlei Anläufen habe ich versucht, Sünden gegen Form- und/oder
Inhaltstreue der Übersetzung zu minimieren. Es ist nun mal so, dass die
englische Sprache kompakter ist, also mit weniger Silben auskommt als das
Deutsche. Um nicht eine zu artifizielle, lyrische Verknappung des Ausdrucks
zu erzeugen, die ich der Sprache von Wordsworth gar nicht gemäß fand, habe
ich aus z.B. fünfhebigen Versfüßen oft sechshebige oder noch längere gemacht.
Das verändert natürlich die Musik. Anders bei der Übersetzung der Blankverse,
jambische Pentameter ohne Reim. Hier stellt sich die Frage, welchen Stellenwert
hat für den Leser/Hörer die Zeilenlänge mit der Zahl von fünf Hebungen und wie
geht der Übersetzer mit unbetonten Zeilenendsilben um, die im Englischen doch
viel seltener sind? Von Schiller könnten wir lernen, dass dann am Zeilenende
auch eine Sinnpause liegen sollte, andernfalls das Enjambement (das pausenlose
Hinüberlesen zur folgenden Zeile) zum rhythmischen Stolpern mit dem unbetonten
Auftakt der nächsten Zeile führt. Als ein Unikum sei erwähnt, dass man es bei der
Rezitation machen kann wie Straub/Huillet in Hölderlins Der Tod des Empedokles, wo
die beiden Filmregisseure ihren Laiendarstellern offenbar eine Mini-Zwangspause
am Ende jeder Zeile verordnet haben, um die Zeilenenden hörbar zu machen. Ich
dagegen habe mit Zeilen (in Grenzen) variabler Länge experimentiert, und das
ist bei einigen Texten auch noch sichtbar. Habe mich später aber um das Formoriginal
bemüht und muss sagen, dies hat, weil es zwangsläufig eine Mehrbemühung um das
Original bedeutete, auch inhaltliche Verbesserungen erbracht.
Was die gereimten Formen angeht, so habe ich des öfteren Zuflucht
genommen zu unreinen Reimen. Im Englischen heißen diese auch
imperfect rhymes oder slant rhymes und sind neueren Poetiken
zufolge auch hoffähig. Natürlich könnte man sagen, sie seien des
Meisters nicht würdig. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass
Wordsworth sich auch mal des Augenreims (rhyme by sight oder eye rhyme)
bedient, wo sich der Reim nur durch die Schreibweise, nicht durch die
aktuelle Aussprache ergibt (Beispiel by – majesty); mir wurde versichert,
dass im Falle Wordsworth dies nicht auf einer, wie man meinen könnte, damals
noch anderen Aussprache beruhe.
Für konstruktive Kritiken, für Benachrichtigungen über Druckfehler
bis hin zu Hinweisen auf Übersetzungsschwächen oder -fehler bin ich
jederzeit dankbar. Mein Dank gilt hier Elsbeth und Winfried Bauer,
die zu der besagten initiierenden Wanderung im Lake District eingeladen
hatten, ferner Dag. T. Anderson und Kisty Creighton, mit denen ich das
eine oder andere Detail diskutieren konnte, brieflich oder wiederholt
bei der Wordsworth Winter School. Im Frühjahr 2003 habe ich die Texte
erstmals ins Web gestellt. Für ein neues Design der Seiten sorgte nun
Birgit Rein. Ihr gilt mein ganz besonderer Dank!
Nachwort im Jahr 2021
      Die vorstehenden Notizen stammen aus dem Jahr 2006, während die Erstfassung der Website aus 2003 datiert. Seither habe ich immer wieder, wenn auch manchmal mit längeren Unterbrechungen, daran gearbeitet, Fehler oder Schwächen meiner Texte zu beheben oder aber die Sammlung meiner Übertragungen zu erweitern. Es ist ja der Vorteil eines nicht abgeschlossenen Buches, dass man es jederzeit ändern und fortschreiben kann.
      Nachfragen kamen vor allem von Übersetzern, die in ihren englischen Vorlagen ein Gedicht, eine Strophe oder ein paar Zeilen von Wordsworth zitiert fanden und deshalb sinnvollerweise nach einer existierenden deutschen Übersetzung fahndeten. Es gab aber auch Lektoren renommierter oder weniger renommierter Verlage, die die Verletzung meines Urheberrechtes durchgehen ließen, als habe der längst tote Wordsworth auf Deutsch geschrieben.
      Motiv für meine Beschäftigung mit Wordsworth ist nach wie vor, dass ich ihn verstehen möchte. Nachvollziehbarer Ausdruck des Verstehens ist für mich die Wiedergabe seiner Texte auf Deutsch und mein Wunsch dabei ist, dass diese Übertragung in die Muttersprache dem Original sich als würdig erweist. Die Darbietung als Paralleltext von Original und Übersetzung ist mir wichtig als ein Ausdruck auch dessen, dass die Übertragung ein Diskussionsangebot ist.
      Reime sind ein wesentlicher Fallstrick, der den Übersetzer, der die lyrische Form ohne große Abstriche bewahren will, immer wieder zu einer Art von Verräter gegenüber seiner Vorlage macht. Im Nachhinein muss ich heute eher staunen, mit welcher Unbekümmertheit ich mich auf diese Weise um so manche Übersetzung bemüht habe. An einige Gedichte von Wordsworth habe ich mich in letzter Zeit aber erst herangetraut, als ich mir ein weniger anspruchsvolles Ziel setzte: Das Gedicht zu übertragen in eine an das Original nur angelehnte lyrische Form, die jedoch ganz ohne die Reime auskommt. Zu nennen sind hier die Gedichte The Thorn, ferner Guilt and Sorrow, or Incidents upon Salisbury Plain und Ode to Duty. Wenn es auch bei solch nur sehr partieller Formtreue durch das Einhalten von Zeilenlängen kaum vermeidbar immer noch Stellen gibt, wo Worte des Dichters verloren gehen, so wird doch, so hoffe ich, für den Leser durch die gewählte lyrische Übertragung insgesamt mehr transportiert, als wenn man den Inhalt in Prosa Wort für Wort wiedergibt.
      In den obenstehenden Notizen des Jahres 2006 habe ich bereits meine Experimente bei der Behandlung der englischen Blankverse (jambische Pentameter ohne Reime) angesprochen. Zu den dies bezüglichen Fragen gehörte aber nicht nur die Zahl der Hebungen pro Zeile oder wie man mit der im Deutschen möglichen elften und unbetonten Silbe am Zeilenende umgehen soll, sondern auch, welche Abweichungen vom orthodoxen jambischen Schema noch zulässig erscheinen, ohne das Metrum so zu beeinträchtigen, dass es unkenntlich wird, z.B. man beim Lesen aus dem Rhythmus kommt. Die schlichte Beobachtung, dass auch Wordsworth vom reinen Schema abweicht, führte geradewegs zu der Frage, welche Abweichungen erlaubt sich Wordsworth selbst und lässt sich bei ihm dazu eine Regelhaftigkeit erkennen und beschreiben.
      In den vergangenen Jahren habe ich mich mit diesen Fragen zum englischen und deutschen Blankvers intensiver befasst. Mein Lehrmeister zu dieser Thematik wurde Derek Attridge, insbesondere durch sein Buch The Rhythms of English Poetry. Da ich in deutschen Büchern zur Metrik der Blankverse nichts Vergleichbares fand, habe ich versucht, den Ertrag meiner Studien in (bisher) drei Aufsätze zu gießen, die auf dieser Website versammelt sind unter Verschiedenes und von dort auch heruntergeladen werden können:
       1. Wordsworths grundlegende metrische Regularien für den Blankvers nach dem Modell von Derek Attridge
       2. Zur Metrik der deutschen Übersetzung von Wordsworths Präludium 1850 durch Hermann Fischer
       3. Zur Metrik ausgewählter Autoren des frühen deutschen zehnsilbigen Blankverses
      Zu einem bisher nicht beachteten kleinen Kapitel der Rezeptionsgeschichte von Wordsworth in Deutschland im 19. Jahrhundert habe ich beigetragen mit meinem ebenfalls unter Verschiedenes zu findenden Aufsatz
Wordsworth in Cotta’s Literary Journal Blätter zur Kunde der Literatur des Auslands, 1836 – 1840.
      Dies Nachwort beschließen möchte ich mit Worten, die ich in den Vorbemerkungen von Andreas Baumgartner zu seinem Essay samt zweisprachiger Anthologie mit dem Titel William Wordsworth – Nach seiner gemeinverständlichen Seite dargestellt, Zürich 1897, gefunden habe:
     Die Übersetzungen sollen dem des Englischen Unkundigen nur einen Begriff vom Inhalt der Gedichte geben, nicht von ihrer Schönheit. Die Übersetzung eines lyrischen Gedichtes ist – vom Hauptgedanken und vom Versmaß abgesehen – immer etwas ganz anderes als das Original; sie ist ein selbständiges Gedicht, das seine eigene Schönheit und Musik haben mag, aber nicht die des Urbildes widerspiegeln kann.
      Dem Kenner der fremden Sprache bietet die Übersetzung den Reiz des Vergleiches: er bedauert es, wenn beim Übersetzen eine Feinheit des Gedichtes verloren gegangen ist; er zuckt mit der Achsel, wenn ihm ein schöner Vers im bloßen Alltagsgewand entgegentritt; er lächelt, wo der Übersetzer ins Blaue hinein geschossen hat; er freut sich, wo die poetische Wiedergabe geglückt ist. Nicht selten gestattet ihm ein einziges Gedicht, alle Stufen der Gefühlsleiter zu durchlaufen.
Dietrich H. Fischer
im März 2021